Rechtszustand der Militärdiktatur unter Oberbefehl des Kaisers.

Zu den militärischen Rechten des Kaisers zählt die Reichsverfassung, die Befugnis desselben, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Teil desselben in Kriegszustand zu erklären. Diese Bestimmung findet sich in dem IX. Abschnitt der Reichsverfassung, welcher die Überschrift „Reichs-Kriegswesen“ trägt, und nach dem Wortlaut der norddeutschen Bundesverfassung war diese Befugnis nicht dem Bundespräsidium, sondern dem „Bundesfeldherrn“ beigelegt; es ist also kein Zweifel, dass nach der Verfassung dieses Recht des Kaisers als ein Ausfluss oder Bestandteil seines militärischen Oberbefehls aufgefasst wird. Daraus ist aber nicht zu folgern, dass von dieser Befugnis nur im Kriegsfall oder zur Sicherung der öffentlichen Ordnung gegen äußere Feinde Gebrauch gemacht werden dürfe; denn der kaiserliche Oberbefehl besteht auch im Frieden, und das Militär ist nicht nur zum Schutz gegen äußere Feinde, sondern auch zur Aufrechterhaltung des Landfriedens gegen innere Bedrohungen bestimmt.

Ihrem Inhalte nach reicht die im Artikel 68 dem Kaiser eingeräumte Machtvollkommenheit aber weit über die Grenzen hinaus, welche dem Militäroberbefehl an sich gezogen sind; denn die Erklärung des Kriegszustandes wirkt nicht nur auf die zur Armee gehörenden, zum Militärgehorsam verpflichteten Personen, sondern sie erstreckt sich auf die gesamte Verwaltung und sogar auf das Strafrecht und die Rechtspflege und erzeugt eine tief eingreifende, wenngleich nur zeitweilige, Veränderung des gesamten Rechtszustandes.

Die Erklärung des Kriegszustandes ist im Wesentlichen als die Einführung einer Militärdiktatur zu bezeichnen.

Dieselbe kann sich auf jeden Teil des Bundesgebietes (ausgenommen Bayern) erstrecken, also nötigenfalls auch auf das ganze Bundesgebiet. Die Entscheidung der Vorfrage, ob die öffentliche Sicherheit bedroht ist, hat der Kaiser allein zu entscheiden; weder hat die Landesregierung ein Zustimmungs- oder Widerspruchsrecht, noch steht dem Bundesrat oder dem Reichstag eine Beschlussfassung resp. Genehmigung zu.

Aus Paul Laband – Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

Im Einzelnen gelten darüber folgende Regeln:

1. Die Voraussetzungen, die Form der Verkündigung und die Wirkungen der Erklärung des Kriegszustandes sind durch ein Reichsgesetz zu regeln: bis zum Erlass eines solchen gelten dafür die Vorschriften des preußischen Gesetzes vom 4. Juni 1851 (preuß. Gesetzsamml. 1851, Seite 451 ff.). Die provisorische Geltung dieses Gesetzes erstreckt sich daher nicht auf den gesamten Inhalte desselben, sondern nur auf diejenigen Bestimmungen, welche Voraussetzungen, Verkündigung und Wirkungen betreffen; und auch diese Anordnungen lassen zum Teil keine vollständige und wörtliche Anwendung in den nichtpreußischen Teilen des Bundesgebietes zu, weil sie sich auf preußische Staatseinrichtungen und Verfassungsbestimmungen beziehen.

a) Voraussetzungen. Das Gesetz gestattet nur in zwei Fällen die Erklärung des Belagerungszustandes: für den Fall eines Krieges in den von dem Feinde bedrohten oder teilweise schon besetzten Provinzen (§ 1) und für den Fall eines Aufruhrs bei dringender Gefahr für die öffentliche Sicherheit (§ 2). Andere Gefahren für die öffentliche Sicherheit rechtfertigen die Erklärung des Kriegszustandes nicht.

b) Form der Verkündigung. Unter der Verkündigung ist nicht zu verstehen die Publikation der kaiserlichen Verordnung im staatsrechtlichen Sinne; dieselbe ist in alle Fällen durch Abdruck im Reichsgesetzblatt zu bewirken; sondern die faktische Kundmachung an die von der Verhängung des Kriegszustandes betroffene Bevölkerung. Die Erklärung des Belagerungszustandes ist „zur allgemeinen Kenntnis“ zu bringen durch Verlesung der kaiserlichen Verordnung bei Trommelschlag oder Trompetenschall und außerdem durch Mitteilung an die Gemeindebehörde, durch Anschlag an den öffentlichen Plätzen und durch öffentliche Blätter (§ 3). Dass die drei zuletzt erwähnten Bekanntmachungsarten sämtlich angewendet werden, ist zwar nicht erforderlich, dagegen ist es nach dem Wortlaut des Gesetzes unerlässlich, dass die Verkündigung bei Trommelschlag oder Trompetenschall erfolgt und wenigstens mit einer der drei anderen Bekanntmachungsformen kombiniert werde. Aus dieser Vorschrift über die Bekanntmachungsform ergibt sich übrigens, dass die Erklärung in jeder einzelnen Gemeinde zur allgemeinen Kenntnis gebracht werden muss und dass daher in Ortschaften, welche vom Feinde bereits besetzt sind, die Erklärung des Kriegszustandes nicht wirksam erfolgen kann.

c) Die Wirkungen der Verhängung des Kriegszustandes sind folgende:

α) „Mit der Bekanntmachung der Verhängung des Belagerungszustandes geht die vollziehende Gewalt an die Militärbefehlshaber über. Die Zivilverwaltungs- und Gemeindebehörden haben den Anordnungen und Aufträgen der Militärbefehlshaber Folge zu leisten.“ (§ 4 Abs. 1) Dadurch werden alle Zivilbehörden des Staates und alle Gemeindebehörden zu Unterbehörden und Vollzugsorganen der Militärcommandanten gemacht; die Anordnungen der letzteren sind auszuführen ohne Prüfung, ob dieselben nach den Gesetzen zulässig sind; die unbedingte Gehorsamspflicht der Zivilbehörden entbindet dieselben andererseits von jeder Verantwortlichkeit für die Gesetzmäßigkeit der Maßregeln; die Militärbefehlshaber tragen die Verantwortung für alle von ihnen ausgehenden Anordnungen persönlich (§ 4 Abs. 2).

β) Die Militärpersonen stehen während des Belagerungszustandes unter den Gesetzen, welche für den Kriegszustand erteilt sind und der Befehlshaber der Besatzung hat über sämtliche zu der letzteren gehörenden Militärpersonen die höhere Gerichtsbarkeit (§ 6 und 7).

γ) Gewisse strafbare Handlungen sind mit härterer Strafe bedroht, wenn sie in einem in Kriegszustand erklärten Orte oder Distrikte verübt werden. Die im § 8 des preußischen Gesetzes hierüber enthaltenen Bestimmungen haben aber keine Geltung mehr, da sie durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 31. Mai 1870, § 4 ersetzt worden sind. Danach sind die in den §§ 81 (Hochverrat), 88 (Landesverrat), 90 (Kriegsverrat), 307 (Brandstiftung), 311, 312, 315, 322, 323, 324 (andere gemeingefährliche Verbrechen) des Strafgesetzbuches mit lebenslänglichem Zuchthaus bedrohten Verbrechen mit dem Tode zu bestrafen, wenn sie in einem Teile des Bundesgebietes, welchen der Kaiser in Kriegszustand erklärt hat, begangen werden. Dagegen ist § 9 des preußischen Gesetzes vom 4. Juni 1851 nicht aufgehoben, welcher für die daselbst angegebenen Handlungen, wenn die bestehenden Gesetze keine höhere Freiheitsstrafe bestimmten, Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr androht.

δ) Es kann ferner zur Anordnung von Kriegsgerichten geschritten werden; die darüber getroffenen Bestimmungen müssen aber entweder ausdrücklich in die Bekanntmachung des über die Erklärung des Kriegszustandes aufgenommen oder in einer besonderen, unter der nämlichen Form bekannt zu machenden Verordnung verkündet werden (§ 5 Abs. 1). Das preußische Gesetz verlangt zur Errichtung von Kriegsgerichten, dass zuvor oder gleichzeitig der Art. 7 der preußischen Verfassungsurkunde suspendiert werde; in denjenigen außerpreußischen Staatsgebieten, in denen eine Verfassungsbestimmung gleichen Inhalts besteht, wird in analoger Anwendung des Gesetzes die Suspension des betreffenden Verfassungssatzes auszusprechen sein; wo es an einer solchen Verfassungsbestimmung fehlt, ist die Einrichtung der Kriegsgerichte an die Beobachtung dieser Formalität nicht gebunden. Der Artikel 7 der preußischen Verfassungsurkunde ist aber fast wörtlich im Artikel 16 des Gerichtsverfassungsgesetzes wiederholt worden und hat sonach durch die Erhebung zum Reichsgesetz seine landesgesetzliche Bedeutung verloren. Da nun Artikel 16 des Gerichtsverfassungsgesetzes ausdrücklich die Ausnahme zufügt: „die gesetzlichen Bestimmungen über Kriegsgerichte werden hiervon nicht berührt“, so erscheint eine ausdrückliche Suspension des Artikel 8 der preußischen Verfassungsurkunde bei Einrichtung der Kriegsgerichte auch in Preußen nicht mehr notwendig.

Vor die Kriegsgerichte gehört die Untersuchung und Aburteilung der Verbrechen des Hochverrats, des Landesverrats, des Mordes, des Aufruhrs, der tätlichen Widersetzung, der Zerstörung der Eisenbahnen und Telegraphen, der Befreiung von Gefangenen, der Meuterei, des Raubes, der Plünderung, der Erpressung, der Verleitung der Soldaten zur Untreue und der in den §§ 8 und 9 des Gesetzes mit Strafe bedrohten Verbrechen und Vergehen, insofern alle genannten Verbrechen und Vergehen nach der Erklärung und Bekanntmachung des Kriegszustandes begangen oder fortgesetzte Verbrechen sind (§ 10 Abs. 1).
Über die Zusammensetzung der Kriegsgerichte, ihre Zahl, die Vereidigung der Mitglieder, sowie über das vor den Kriegsgerichten zu beobachtende Verfahren enthält das in Rede stehende Gesetz in den §§ 11-13 die näheren Vorschriften.

ε) Es können ferner die Vorschriften der preußischen Verfassung über die Gewährleistung der persönlichen Freiheit (Art. 5), über die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 6), über die Freiheit der Presse (Art. 27, 28), über das Versammlungs- und Vereinsrecht (Art. 29, 30), und über das Einschreiten der bewaffneten Macht (Art. 36) suspendiert werden. Wenn die Suspension dieser Artikel oder eines derselben angeordnet wird, so gilt über die Bekanntmachung dieselbe Vorschrift wie von der Einrichtung von Kriegsgerichten (§5 Abs. 1). An die Stelle der Art. 5 und 6 der preußischen Verfassung sind aber jetzt, und zwar im gesamten Bundesgebiet, die Bestimmungen im I. Buch 8. und 9. Abschnitt der Strafprozessordnung, und an die Stelle der Art. 27 und 28 der preußischen Verfassung die Bestimmungen des Reichsgesetzes über die Presse vom 7. Mai 1874 (Reichsgesetzblatt S. 65) getreten. Die Erklärung der Suspension wird demnach eintretenden Falls auf diese Reichsgesetze zu richten sein.

2. Die Frage, ob auch den Landesherren die Befugnis zu steht, für ihre Gebiete den Kriegszustand – wenigstens in Friedenszeiten – zu verhängen, ist zu verneinen und zwar aus zwei Gründen. Die Erklärung des Kriegszustandes ist Ausfluss des kaiserlichen Militäroberbefehls; die Einzelstaaten sind nicht befugt, in denselben einzugreifen, insbesondere den Militärbefehlshabern die gesamte Oberleitung der Zivilverwaltung und die Verantwortlichkeit für dieselbe zu übertragen und die Militärgerichtsverfassung eigenmächtig umzuändern. Dies aber sind die mit der Erklärung des Kriegszustandes eintretenden, in § 4, 6 und 7 des Gesetzes erwähnten Rechtsfolgen. Kein Festungscommandant und kein kommandierender General dürfte einem derartigen Befehl nachkommen, wenn er ihm nicht vom Kaiser erteilt ist, oder gar gegen den Willen des Kaisers. Sodann sind die Regierungen der Einzelstaaten nicht befugt, Reichsgesetze eigenmächtig aufzuheben oder umzuändern; die Erklärung des Belagerungszustandes hat aber eine zeitweise Veränderung des Strafgesetzbuchs, und sofern Kriegsgerichte eingesetzt werden, auch des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung zur Folge.

Das Einführungsgesetz zum Reichsstrafgesetzbuch § 4 bedroht die dort aufgeführten Verbrechen nur dann mit dem Tode, „wenn sie in einem Teile des Bundesgebietes, welchen (der Bundesfeldherr) der Kaiser in Kriegszustand (Art. 68 der Verfassung) erklärt hat, … begangen werden“. Einem Landesherrn steht es demnach nicht zu, die im § 4 zit. enthaltenen Normen in Geltung zu setzen. Der Art. 68 der Reichsverfassung ermächtigt den Kaiser allein zur zeitweiligen Suspension des bestehenden Rechts, insbesondere auch der Reichsgesetze; folglich haben die Regierungen der Einzelstaaten dieses Recht nicht.

Völlig unrichtig ist es, wenn v. Mohl sich darauf beruft, dass die Bundesfürsten nach Art. 66 der Reichsverfassung das Recht haben, die in ihren Ländergebieten dislocierten Truppen zu polizeilichen Zwecken zu requirieren. Die „Requisition“ ist in allen Beziehungen das Gegenteil des Kriegszustandes; die Truppen schreiten hier nur auf Erfordern der Zivilbehörde und zu ihrer Unterstützung ein, beim Kriegszustand dagegen ist der Militärbefehlshaber der Herr, er requiriert die Zivilbehörden und erteilt ihnen Anordnungen, wenn er ihrer Hilfe bedarf. Die Requisition zu polizeilichen Zwecken setzt die Fortdauer des gemeingültigen Rechts voraus, der Kriegszustand die zeitweise Aufhebung desselben. Die Reichsverfassung unterscheidet daher mit gutem Grunde, wenn sie im Art. 66 den Bundesfürsten das Recht zur Requisition von Truppen, dagegen im Art. 68 dem Kaiser das Recht zur Erklärung des Kriegszustandes zuschreibt und es ist gerade aus dieser Unterscheidung der Schluss gerechtfertigt, dass die Bundesfürsten das im Art. 68 erwähnte Recht nicht zu haben.

3. Alles, was im Vorstehenden über die Verhängung des Kriegszustandes ausgeführt worden ist, findet auf Bayern keine Anwendung. Dass der Kaiser im Frieden Bayern nicht in Belagerungszustand versetzen kann, folgt schon aus der Ausschluss des Oberbefehls des Kaisers über die bayerische Armee in Verbindung mit dem Ausschluss des Rechts, andere Truppen nach Bayern zu dislocieren; aber auch den Fall des Krieges ist dieses Recht dem Kaiser nicht eingeräumt. Nach dem Vertrage vom 23. November 1870 und der Schlussbestimmung zum XI. Abschnitt der Reichsverfassung ist die Anwendung des Art. 68 der Reichsverfassung auf Bayern unbedingt und vollständig ausgeschlossen. Dagegen ist das Reich kompetent, ein Gesetz über die Erklärung des Bundesgebietes oder eines Teils desselben in Kriegszustand zu erlassen, welches auch für Bayern Geltung haben würde. Diese in Art. 4, Ziffer 14 begründete Kompetenz ist im Vertrage vom 23. November 1870, III, § 5, Ziff. VI ausdrücklich anerkannt worden.

Dem Ausschluss des Rechts des Kaisers zur Erklärung des Kriegszustandes entspricht es, dass der König von Bayern in seinem Staatsgebiete zur Ausübung desselben befugt ist. Demgemäß hat das Reichsgesetz vom 22. April 1871, § 7 (Reichsgesetzblatt S. 89) bestimmt, dass an Stelle des § 4 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch für Bayern es bis auf Weiteres bei den einschlägigen Bestimmungen des Militärstrafrechts, sowie bei den sonstigen Vorschriften über das Standrecht sein Bewenden hat, und ebenso ist in das Gerichtsverfassungsgesetz Art. 16 die Klausel aufgenommen worden, dass von diesem Artikel die gesetzlichen Bestimmungen über Standrechte nicht berührt werden.

Quelle:
Paul Laband – Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.
Zweiter Band. Seite 517 ff. § 19. Der Oberbefehl über die bewaffnete Macht des Reiches.
Dritte Auflage. Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr Freiburg und Leipzig, 1895.

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